Aktuelle Predigt

Predigt vom 13. August 2023 von Pfarrerin Dr. Tatjana Schnütgen, zum Israelsonntag

Gnade und Friede sei mit euch. Von dem, der da ist, und der da war und der da kommt.

Liebe Gemeinde,

eine Abschiedsrede ist unser heutiger Predigttext, der Redner: Mose. Sie steht im 5. Buch Mose. Wunderbar literarisch gestaltet sind die Worte dieses fünften Buches der Torah. Es wird auch Deuteronomium genannt, das zweite Gesetz. Wer ihm zuhört, erfährt eine Wiederbegegnung mit den Geboten und Rechten Israels, bekannte Stellen springen ins Auge wie die Zehn Gebote und das Doppelgebot der Liebe.

Moses Abschiedsrede versetzt uns in die Wildnis. Die 40-jährige Wanderung seit dem Auszug aus Ägypten wird bald an ihr Ziel kommen. Das Volk steht da, bereit zum Eingang in das Neue. Nicht alle werden das Ziel erreichen. Auch Mose nicht. Was war geschehen?

Im vierten Buch Mose wird davon erzählt. Die Israeliten versuchten Gott zum X-ten Mal. Ihnen war wieder einmal der Geduldsfaden gerissen. Also treten sie ihren Glauben in die Tonne. Sie glauben nicht mehr an den guten Weg, der sie weiterführt, bis zum Ziel. Sie murren. Mose und Aaron halten ihren Kopf hin, vermitteln, trösten, doch alles vergebens. Schließlich wirft Mose sich im Gebet vor Gott nieder und bittet, dem Volk zu verzeihen.

Doch Gott hörte nicht mehr. In der Abwesenheit seiner Gegenwart blieb die Mosegeneration auf ihrer Schuld sitzen. Auch Mose, der doch immer weiter gehofft hatte, dass das Volk sich des Wortes vom Sinai würdig erweist, kam nicht mehr weiter. Keiner der ersten Generation sollte das gelobte Land erblicken.

So steht Mose nun kurz vor dem Ziel und für ihn geht es nicht weiter. Doch seine Abschiedsrede ist frei von Bitterkeit. Sein Auftrag als Lehrer und Prophet ist es, dem Volk die Worte Gottes weiterzureichen, jetzt. Die debarim heißt es auf Hebräisch. Und wir werden noch sehen, warum debarim nicht nur Worte oder Informationen oder Texte sind, sondern viel mehr. Die Rede Mose gibt etwas zu sehen.

5Sieh, ich habe euch gelehrt Gebote und Rechte, wie mir der Herr, mein Gott, geboten hat, dass ihr danach tun sollt im Lande, in das ihr kommen werdet, um es einzunehmen. 6So haltet sie nun und tut sie! Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk! 7Denn wo ist so ein herrliches Volk, dem Götter so nahe sind wie uns der Herr, unser Gott, sooft wir ihn anrufen? 8Und wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat wie dies ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege?

9Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang. Und du sollst deinen Kindern und Kindeskindern kundtun 10den Tag, da du vor dem Herrn, deinem Gott, standest an dem Berge Horeb, als der Herr zu mir sagte: Versammle mir das Volk, dass ich sie meine Worte hören lasse und sie mich fürchten lernen alle Tage ihres Lebens auf Erden und ihre Kinder lehren.

11Da tratet ihr herzu und standet unten an dem Berge; der Berg aber stand in Flammen bis in den Himmel hinein, und da war Finsternis, Wolken und Dunkel. 12Und der Herr redete mit euch mitten aus dem Feuer. Den Klang der Worte hörtet ihr, aber ihr saht keine Gestalt, nur eine Stimme war da.

13Und er verkündigte euch seinen Bund, den er euch gebot zu halten, nämlich die Zehn Worte, und schrieb sie auf zwei steinerne Tafeln. 14Und der Herr gebot mir zur selben Zeit, euch Gebote und Rechte zu lehren, dass ihr danach tun sollt in dem Lande, in das ihr zieht, es einzunehmen.

 15So hütet euch um eures Lebens willen – denn ihr habt keine Gestalt gesehen an dem Tage, da der Herr mit euch redete aus dem Feuer auf dem Berge Horeb –, 16dass ihr euch nicht versündigt und euch irgendein Bildnis macht, das gleich sei einem Mann oder einer Frau, 17einem Tier auf dem Land oder Vogel unter dem Himmel, 18dem Gewürm auf der Erde oder einem Fisch im Wasser unter der Erde. 19Hebe auch nicht deine Augen auf zum Himmel, dass du die Sonne sehest und den Mond und die Sterne, das ganze Heer des Himmels, und fallest ab und betest sie an und dienest denen, die der Herr, dein Gott, zugewiesen hat allen Völkern unter dem ganzen Himmel. 20Euch aber hat der Herr angenommen und aus dem Schmelzofen, nämlich aus Ägypten, geführt, dass ihr sein Erbvolk sein sollt, wie ihr es jetzt seid.

„Siehe“ – so fängt er an zu reden. Augen auf! Moses Rede könnte unsere Blindheit für die Tora heilen. Blind waren wir Christen für die Tora. Seit der Trennung vom Judentum wurde das Leben-Schaffende von Geboten und Rechten verkannt und als Knechtschaft diffamiert. Doch die Gebote und Rechte setzen ein mit der Erinnerung an die Befreiung von der Knechtschaft. So sind die Gebote und Rechte Gaben und nicht Fesseln. - Wir finden sie im 2. Buch Mose und im 5. Buch Mose und wir finden sie im Mund Jesu, der von einem lernwilligen Schriftgelehrten nach dem Weg zum Leben gefragt wird:

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft und deinen Nächsten wie dich selbst.“

Was ist das für ein Gott, dem wir uns in Liebe verbinden dürfen? „Ich bin Adonaj, dein Gott, weil ich dich herausgeführt habe aus dem Land Ägypten, dem Sklav:innenhaus“.

Israels Gott, mein Gott, unser Gott. Ein Gott mit guten Plänen. Die Befreiung aus Ägypten. Ziel erreicht. Die Befreiung vom Drang, Gott infrage zu stellen und zurückzuwollen zum früheren Leben, in dem alles so bekannt und sicher und angenehmer war. Das ist Gottes Angebot.

Beim Hören der Gebote gehen denen die Augen auf, die sich auf die Kraft, die in ihnen wohnt, einlassen. Der Sinn der Gebote ist keineswegs, an ihnen zu scheitern. Der Sinn der Gebote ist: sie halten. Sie geben Halt, spenden Zusammenhalt, sie halten Menschen am Puls des Lebens.

In unserer Zeit ist erkannt worden wie sehr verzweifelten Menschen die Vergewisserung ihrer eigenen Werte helfen kann. Mit den eigenen Werten im Gleichklang zu gehen hilft, überhaupt noch gehen zu können. Wo man herausfällt aus dem Halt der Gebote und Rechte, ist es so schwierig, sich selbst noch zu spüren als Mensch im Ebenbild Gottes.

Doch vielleicht bringt manche Lebenskrise die eigenen Werte nochmal anders ins Blickfeld. Bislang wichtige Werte in einen anderen Rahmen zu setzen, verändert auch die Art, wie der Wert umgesetzt wird.

Beständigkeit und Verlässlichkeit ist so ein Wert. Wir haben da Bilder im Kopf von der Verlässlichkeit. Es heißt, dranbleiben, auch wenn es Schwierigkeiten gibt, dranbleiben, bis die Probleme gelöst sind. Doch wenn das Umfeld einem unter den Füßen wegbröckelt, braucht es andere Werte.

Vielleicht Weitsicht, den Glauben an die eigene Fähigkeit mit veränderten Bedingungen umgehen zu können, vielleicht den Mut, etwas anders zu machen oder etwas anderes zu erstreben als zuvor. Wo Menschen erkennen, dass der Krieg in ihrem Heimatort ein menschenwürdiges Leben unmöglich macht, kann ein solcher Mut nötig sein. Aber auch bei uns, in unserer Gesellschaft sind solche schmerzhaften Lernprozesse schon zu beobachten gewesen. Ein Beispiel, das uns in eine Zeit vor ein paar Jahrzehnten versetzt:

Der Vater einer heranwachsenden Tochter sieht sich in seinen Werten bestätigt, als sie heiratet, ja auch noch kirchlich. Das ist wichtig. Der Mann ist selbst Pfarrer und glaubt an den Bund der Ehe, an die Treue fürs Leben und die Ewigkeit. Er lebt in einer Zeit, als dieser Wert noch von der Mehrheit als wichtig empfunden wurde. Als Oberkirchenrat achtet er darauf, dass die Pfarrer ihre Ehe tadellos in Treue und Beständigkeit führen. Nichts anderes war vorstellbar und nichts darüber hinaus war akzeptabel. Nun wurde die Tochter selbst Pfarrerin. Ihre Ehe war zunehmend ein Desaster. Nicht so wie erwartet, sie war doch so verliebt am Anfang. Doch sie erlebte, wie ihr Selbstwertgefühl den Bach runterging. Sie fühlte sich nicht verstanden. Ihr Mann schien überhaupt keine Empathie aufzubringen, obwohl er doch anfangs so zugewandt und verständnisvoll schien. Sie reichte die Scheidung ein.

Für den Vater und Oberkirchenrat brach eine Welt zusammen. Der Wert, der ihn selbst immer geleitet hatte, ob im Privaten oder in seiner Kirchenleitung, zerbröselte vor seinen Augen. Eine Trennung, gar eine Scheidung. Unvorstellbar.

Bis er genauer hinsah, seiner Tochter zuhörte und seine Augen etwas sahen, was sie vorher nicht sehen konnten. Die Scheidung war eine Befreiung für seine Tochter. Sie konnte in der Ehe nur noch unter vielen Schmerzen leben. Die Trennung gab ihr die Chance auf einen Neuanfang. Mit Gottes Hilfe würde heilen können, was verletzt war, bei ihr und dem Ehemann. Sie würde Gott anders erfahren, neu, als Gott-mit-ihr auch im Scheitern.

Der Oberkirchenrat sah und lernte. Er reagierte von da an anders auf Pfarrer, deren Ehe scheiterte. Nicht mehr mit Strafen und Verurteilungen, Versetzung in den Schuldienst oder in die Altenheimseelsorge. Nein, der Lernprozess war fruchtbar. Ohne den Wert der Beständigkeit preiszugeben, war nun der Blick geschärft für das Heilsame einer Trennung. Erst als er seine Tochter sah und hinsah, lernte er mehr zu sehen.

„Wie seltsam, dass wir sehen müssen, um das wahrzunehmen, was wir nicht sehen können.“, sagt Hannah Arendt. Auch ihr Leben eines, das Stationen mit sich brachte, an denen sie an den Werten, die ihr lieb und teuer waren, irre werden musste. Die politische Philosophin war in der Nazi-Zeit gezwungen mit anzusehen, wie ihr Volk systematisch ausgegrenzt und schließlich vertrieben und noch schlimmer, seine Angehörigen eingesperrt und getötet wurden.

War das noch der Gott des Lebens, der mich und dich aus dem Leib der Mutter gezogen hat, der uns aus dem Sklavenhaus in Ägypten herausgeholt hat und ein Land zum Erbe gab, in dem die Torah und nicht die Rechte der Stärkeren, gelten sollten?

Ein Land oder wenigstens eine Gemeinschaft, wo es die Milch vertrauensvoller Beziehungen gab und den Honig des Wortes vom Sinai?

 

Zeitlebens spürte sie, Hannah Arendt, einer Sprache nach, die sehen lässt, wovon unser Leben in Gesellschaften durchdrungen ist. Ein Sprachkunstwerk der jüdischen Dichterin Rose Ausländer drückt aus, im Gedenken an ihre hebräische Muttersprache, was ihr Sprache bedeutet.

MUTTER SPRACHE

Ich habe mich
in mich verwandelt
von Augenblick zu Augenblick

in Stücke zersplittert
auf dem Wortweg

Mutter Sprache
setzt mich zusammen

Menschmosaik (zwei Mal lesen, beim zweiten Mal ohne Überschrift)

Ein Wunder, wie dieser Mose, dessen Zunge doch so schwer war, Worte fand. Auch er ein Menschmosaik.

Noch einmal die Essenz: Gott befreit. Seine Tat ist auch ein Wort.

Seine Taten der Fürsorge sind Debarim, Tatworte im Sinne der hebräischen Sprache.

 

Dieses Erbe ist da, um es zu leben, von ganzem Herzen.

Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.“ (5 Mose 4,9). Daher die Wiederholung der Gebote. Unermüdlich. ---

 

Doch dann ein Stimmungswechsel, die Rede vom Bild Gottes oder vielmehr von den Gottesbildern. Mose weist Bilder zurück und sagt, sie sind nicht geeignet, Gott darzustellen. Mir scheint, er zieht einen riesigen Kreidekreis um die gesamte Schöpfung. In dem Kreis ist nichts Göttliches. Nichts darin ist anbetungswürdig. Streng, allzu streng klingen diese Verse:

16dass ihr euch nicht versündigt und euch irgendein Bildnis macht, das gleich sei einem Mann oder einer Frau, 17einem Tier auf dem Land oder Vogel unter dem Himmel, 18dem Gewürm auf der Erde oder einem Fisch im Wasser unter der Erde. 19Hebe auch nicht deine Augen auf zum Himmel, dass du die Sonne sehest und den Mond und die Sterne, das ganze Heer des Himmels, und fallest ab und betest sie an und dienest denen, die der Herr, dein Gott, zugewiesen hat allen Völkern unter dem ganzen Himmel.“ (5 Mose 4,16-19).

Wie kann in dem Bannkreis der gesamten Schöpfung dann noch Gott erscheinen und uns berühren? Stand nicht Mose selbst vor dem brennenden Dornbusch in der Wildnis und Gott hat ihn dort erreicht?

Ich glaube, dass gerade drinnen im Kreis des Universums, wo unsere Augen durch das, was sie sehen, lernen über das Sichtbare hinauszusehen. Wir brauchen unsere Sinne, um Begegnung zu erfahren. Im faszinierenden Flackern des Feuers, im Donner, in Finsternis und Wolken ist doch Gott erschienen, sichtbar – unsichtbar, laut und unhörbar, mit voller Stimme, aber nicht als Buchstaben, sondern in einer Klanggestalt.

Gott begegnet uns, wo er will. Jesus sagt, der Geist weht, wo er will. Ich sehe den Geist in der Musik, in Kunstwerken, in dem Bräutigam, der die Braut anbetungswürdig findet, im bestirnten Himmel und der fruchtbaren Erde, auf der uns der Weinstock und der Weizen wachsen.

Gott ist da, Er ist der ICH-BIN-DA im Ebenbild seiner Menschen.

Gott ist da, im Netz des Lebens. Hier bildet sich Gottes Liebe ab. Nicht, dass die Biotope und Meere selbst anbetungswürdig sind, aber ihre Durchlässigkeit für Gottes Stimme hat schon viele Menschen ins Gebet geführt. Vielleicht auch Sie? Vielleicht kennen Sie das?

Gottes Klang ist immer nur in der Gegenwart zu spüren, er bohrt sich in die Ohren, sucht den Weg ins Herz. Verweht wieder.

Ja, Gott befreit, zum Beispiel von dem Festhalten an überholten Werten.

Gott befreit von Gottesbildern, die uns knechten wollen. Und manchmal hören Augen mehr als die Ohren. (nach Manfred Hinrich, dt. Philosoph 1926-2015).

Sieh hin.

Siehe, deinen Nächsten und höre, wenn dir dein Bruder oder dein Feind begegnet die Worte, die Jesus wiederholt hat, unermüdlich.

Lasst sie uns nicht aus dem Herzen kommen, unser Leben lang:

Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft« (5. Mose 6,4-5). 31Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. (Markus 12, 29-31).

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.